Leinen — das Gewicht macht’s

An Leinen als Anzugstoff scheiden sich die Geister: Der eine liebt den besonderen Charme, den leicht faltiges, grobes Leinen nach einiger Tragezeit ausstrahlt, der andere kann mit dem allzu unkorrekten und scheinbar so gar nicht mit formeller Garderobe kompatiblen Gewebe einfach nichts anfangen. Sollten Sie sich eher mit zweiterer Ansicht angefreundet haben, könnte der Grund ein —auf den ersten Blick— banaler sein: Das Gewebegewicht.

Leinen muss dick und schwer sein. Auch und gerade im Sommer. Warum? Ganz einfach: Die Leichtigkeit und Luftigkeit eines Gewebes ergibt sich nicht in erster Linie durch sein absolutes Gewicht, sondern vielmehr durch die Webart. Als Faustregel gilt: Je dichter die Webung, desto wärmer trägt sich der Stoff. Glatte Gewebe lassen ihren Träger also um ein vielfaches schneller schwitzen, als ihre offenen, rauen Pendants. Die Luft, die sich zwischen dem Träger und dem Anzug sammelt, kann durch offene Gewebe leichter zirkulieren. Spezielle Sommerstoffe werden deshalb oft in Panama- oder loser Leinwandbindung angeboten.

Allzu leichte Stoffe würden in einer derartigen Ausführung allerdings viel zu schnell knittern, weswegen sich ein schwerer Stoff generell empfiehlt. Dieser ist nicht nur Faltenresistenter; er hängt sich auch wesentlich besser aus und kann mehr vom Körper abgegebene Feuchtigkeit aufnehmen — eine Art biologische Klimaanlage also.

Richtig ausgesucht, eignet sich Leinen sogar als robustes Hosenmaterial für die warmen Monate, vom klassischen Sommeranzug gar nicht erst zu reden. Hier würde sich auch ein Halb- oder Viertelfutter im Sakko anbieten. Auf diese Art lässt sich eine weitere Lage Stoff einsparen — an besonders heißen Tagen ein wahrer Segen. Ärmel und Schulterpartie sollten allerdings immer gefüttert sein, damit die Jacke leichter an- und auszuziehen ist.

Besonders gutes und schweres Leinen findet man in Irischen Webereien, hergestellt in weitgehender Handarbeit und auf kleinen, oft handbetriebenen und dadurch erfreulich langsamen Webstühlen. Der Griff ist angenehm fest und körnig, ohne unangenehm kratzig zu wirken. Die Zeiten, als gutes Leinen in heimischen Gefilden leicht zu bekommen war, sind leider längst passé. Sollten Sie aus alten Familienbeständen noch gutes, festes Bauernleinen lagernd haben, hüten Sie es wie Ihren Augapfel — es könnte Ihre Rettung im nächsten Jahrhundertsommer werden!

In seiner Serie „Die Basis: Grundlagen der Herrengarderobe“ befasst sich Florian Küblbeck mit dem Fundament des Gentleman-Kleiderschranks. Im Rahmen einer neuen Reihe wird er an dieser Stelle regelmäßig in die Basics unter den Bekleidungsstoffen, deren Eigenschaften und Besonderheiten einführen.

Kategorie: Stoffe

Florian S. Küblbeck

Florian S. Küblbeck ist freier Journalist und schreibt vor allem über Mode, Stil und Genuss. Mit seinem Erstwerk "Was Mann trägt: Gut angezogen in zwölf Schritten" gab er 2013 sein Debüt als Buchautor.

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