Du siehst es von der anderen Seite, weil Du dich persönlich bedrohter fühlst.
Aus den unendlich vielen Möglichkeiten können alle eintreten, solange das Gegenteil nicht bewiesen ist. Stimmt.
Solange es aber keinen Beweis gibt, *dass* es diese gibt, kann davon ausgegangen werden, dass es diese nicht gibt. Ich dachte so funktioniert Wissenschaft.
Ich habe bisher noch keine Berichte gelesen indem es Evidenzen gibt, dass davon ausgegangen werden kann, dass auch harmlose / asymptomatische Verläufe Langzeitschäden erleiden können.
Das ist eine Krankheit, von der wir sehr wenig wissen und wo deshalb selbst in der Wissenschaft große Unsicherheiten bestehen. In einem Jahr mag das schon besser sein.
Bis dahin gilt: Absence of evidence != Evidence of absence.
Entsprechend müssen wir vorsichtiger sein, als wir es sein müssten, wenn wir schon alles wüssten. Das ist die richtige Strategie, die wir schon seit Beginn dieser Krise fahren und die uns deshalb erst die vergleichsweise geringen Fallzahlen gebracht hat, obwohl die europäischen Nachbarn um uns herum meist viel stärker heimgesucht wurden. Daraus leiten manche (nicht Du, aber viele andere, speziell auch in Deine Alter) ab, dass das alles nicht so schlimm ist und die anderen sich nicht so anstellen sollen.
Darin liegt die Gefahr.
Ja, ich fühle mich tatsächlich bedrohter, erstens persönlich (was mich aber z.B. gestern nicht davon abgehalten hat, das kalkulierte Risiko einzugehen, auswärts (al fresco) an einem überfüllten Ausflugsort meiner Stadt zu dinieren), aber zweitens, weil meine Schwiegereltern 91 und 85 und damit, obwohl weiterhin selbständig, doch betreuungsbedürftig sind und bei einer Erkrankung von meiner Frau oder mir eine sehr gute Chance auf einen ziemlich hässlichen Tod hätten. Ich würde meinen, dass viele Menschen ältere Verwandte haben, aber vielleicht haben sie keinen intensiven Kontakt.
Von einer gesellschaftlichen Sichtweise gibt es deswegen eigentlich keine zwei Seiten, von der man das betrachten könnte.
Das würde aber mit deiner Einschätzung eher dazu führen, wieder in einen Lockdown zu gehen, da wir aktuell tausende Menschen Langzeitschäden aussetzen.
Ich mache mir derzeit gar nicht so viele Sorgen um die absoluten Zahlen, sondern um die aktuelle Tendenz und die Rasanz einer exponentiellen Entwicklung, die sich jetzt schon andeutet. Hamm z.B. hat innerhalb einer Woche seine Neuinfektionen vervierfacht. Nur eine Stadt von vielen. Und wir haben noch Sommer.
Wenn wir jetzt nicht darüber nachdenken, wie wir das in den Griff bekommen können, reden wir nicht über die aktuell 20000 Infizierten, sondern sehr schnell über Hunderttausende. In Frankreich und Spanien sind wir längst dort angekommen. Und dann können wir es nicht mehr aufhalten und gehen tatsächlich unhaltbare Langzeitrisiken mit sehr vielen Infizierten ein. Dadurch wird das öffentliche Leben ohnehin in den Städten teilweise zusammenbrechen. Ob man das dann öffentlich verordnet und Lockdown nennt, spielt im Ergebnis keine Rolle mehr.
Hier ist mMn ein Widerspruch. "Verhältnismäßig" ist eine politische Umschreibung für "wir nehmen pro Tag x tausend Infizierte und x Tote in Kauf, damit die Gesellschaft nicht in Unruhe verfällt und jeder seinen individuellen Freiheiten nachgehen kann (=Egoismus)". Aktuell haben wir relativ viel Freiheit und relativ wenig Erkrankte und Verstorbene. Wie von mir beschreiben werden wir in den nächsten Monat erneut festlegen, wie viel uns was wert ist. Freiheit vs. Erkrankungen.
Wir tun das tatsächlich so, aber das ist immer noch sehr statisch aus dem Heute heraus gedacht bei einer exponentiell dynamischen Fallzahlenlage. Ich glaube, dass wir uns angesichts dessen weniger Gedanken über individuelle Freiheiten machen sollten, sondern mehr über die Unterscheidung von Must-Haves vs. Nice-to-Haves. Die Kernwirtschaft muss weiter funktionieren, damit die Arbeitsplätze dort stabilisiert werden. Das ist ein Must-Have. Ob man mit Freunden eine kleine Party zuhause geben oder zu einem Fußballspiel oder einem Rave im Park gehen kann, ist ein Nice-to-Have.
Über letztere können wir uns wieder Gedanken machen, wenn wir diese ohne solche Gefahren wieder leisten können. Das ist auch keine Entbehrung. Wenn wir das als solche interpretieren, zeigt das nur, wie sehr wir uns von den tatsächlichen Entbehrungen unserer Vorväter und der Konsequenz, mit der diese diese Entbehrungen ertragen haben, entfernt haben.
Um nochmal klar zustellen: Ich finde die aktuellen Maßnahmen völlig angemessen, und sehr oft zu lasch kontrolliert. Ich denke da sind wir gar nicht soweit von einander entfernt.
Das denke ich allerdings auch.