Bekleidung und Silhouette (hier: Sakko)

zr3rs

Well-Known Member
Ich habe zum notorisch schwierigen Thema Sakkolänge sowie dem spezifischen Schnitt einige Überlegungen gesammelt, die dem einen oder anderen bei der Beurteilung der Passform vielleicht hilfreich sind.

Zunächst sei vorausgeschickt, dass die Konfektionsmode so tut, als ob Menschen im wesentlichen in der Breite und gleichzeitigem leichten Übertrag in die Länge skalieren (Lang- und Kurzgrößen mal ignoriert). Aufmerksame Beobachtung des Forums lässt dies als unzulässige Vereinfachung erkennen.

Stattdessen werden Passform und die daraus resultierende Körpersilhouette in der Front- bzw. Rückansicht mindestens durch die Parameter Schulter, Taille und Hüfte bestimmt. Brustumfang lasse ich hier noch außen vor, weil der sich mehr in der Seitensicht manifestiert. Hier mal als simples Diagramm.

Folie1.jpg

Ein erster Parameter zusätzlich zur Kleidergröße ist bei den italienischen Herstellern der "Drop"-Faktor. Er gibt an, um wieviel Zoll der Hüftumfang geringer ist als die Brust. Typische Werte sind Drop 6 (regulär), Drop 7 (slim), Drop 8 (extra slim). Dieser Wert gibt also strenggenommen nicht die Taillierung an, die wäre theoretisch davon unabhängig, allerdings möchten wir gerne zumindest den Eindruck einer minimalen Taille erwecken, sodass üblicherweise ein Taillenumfang etwas geringer als die Hüfte angestrebt wird.

Die Eckpunkte für die Silhoette des Sakkos bzw. des Oberkörpers sind jetzt Schulter und Hüfte. Zwischen diesen beiden Punkten erstreckt sich die Seitenlinie des Sakkos. Je nach Schnittform des Sakkos kann diese Linie leicht unterschiedlich verlaufen, ob es sich um ein britisches oder neapolitanisches Sakko handelt.

Da ein Sakko nur eine begrenzte Steifheit hat (abgesehen von einigen schussfesten Tweed-Qualitäten), gibt es natürlich Passformprobleme, wenn der Körper nicht der Sakkolinie entspricht. Im zweiten Bild ist der (zum Beispiel bei mir zutreffende) Fall einer breiten Schulter gepaart mit einer schmalen Hüfte und einer leicht wohlstandsgepufferten Taille illustriert. Ein Sakko, das in der Schulter passt, wird an der Hüfte schlackern.

Im dritten Bild sind schmale Schultern bei kräftiger Hüfte gezeichnet, hier werden sich die Probleme in der Schulterregion einstellen. Kann das nicht einfach durch Mass(konfektion) erledigt werden? Ich lasse jetzt auch mal die Diskussion der Taille weg, denn die kann man auch bei Konfektion meistens relativ einfach per Schneider anpassen.

Mit Schulter und Hüfte ist die Sache leider nicht so einfach. Man kann zwar einfach körpernah schneidern, aber das Ergebnis würde im ersten Fall eine "T"-Silhouette erzeugen, so wie der Schutzmann auf der Verkehrsinsel. Im zweiten Fall entsteht ein prononcierter Birneneffekt durch das stärkere Hüftareal.
 
Der Schulterschnitt

Wir empfinden Silhoetten als harmonisch, bei denen Schulter, Taille und Hüfte in einem harmonischen Verhältnis stehen. Die Schulter soll breiter als die Hüfte wirken, aber nicht zu breit, während die Taille die schmalste Stelle darstellen soll. Die Taille sollte dann auch noch in einem harmonischen Verhälnis zur Breite der Beinpartie stehen (hier nicht weiter diskutiert, wenn die Taille nicht schmal genug gemacht werden kann, müssen ggf. die Hosenbeine weiter werden).

Ich habe mal eine gleiche Silhouette für unsere drei Körperformen verwendet.

Folie2.jpg

Wenn das Sakko nicht schlackern soll, muss es bei der breiten Schulter sehr eng geführt werden, bei der schmalen Schulter entsprechend weiter. Diese Modellierung ist an der Schulter durch Polster relativ einfach, an der Hüfte dagegen praktisch unmöglich.

Wie kann man das an der Schulter machen? Im ersten Fall (der mich betrifft) ergibt sich die relativ gerade Silhouette durch eine schmale Schulter, in die der Ärmel eingeschoben ist. Natürlich kann das Sakko nicht enger gemacht werden als die Schulter, aber die Naht zum Ärmel kann weiter nach innen gelegt werden und der Ärmel selbst ragt zur Seite raus.

Im Gegensatz dazu muss bei der schmalen Schulter das Sakko überschnitten werden. Eine relativ steife Polsterung hält führt die Schulterlinie über die Schulter hinaus, die Ärmelnaht wird weiter nach außen gesetzt und der Ärmel fällt dann umso steiler ab. Welche dieser Schulterformen man wählt, ist deshalb nicht nur eine einfach Geschmachsfrgae sondern bestimmt auch die Silhouette des ganzen Sakkos/Anzuges.
 
Die Länge

Kommen wir jetzt zu einer der am meisten diskutierten Fragen: Was ist die korrekte Länge? Dazu muss man einen weiteren Parameter betrachten, nämlich das Verhältnis zwischen Rumpf und Extremitäten. Auch hierzu wieder ein Beispielbild.

Folie3.jpg

Die erste Person habe ich so modifiziert, dass sie lange Arme und Beine im Verhältnis zum Rumpf hat (und sie ist auch noch was dünner/schmaler). Die zweite Person hat sehr kurze Beine und Arme bekommen (ganz so schlimm ist es bei mir nicht;)). Für die erste Person habe ich das Sakko einfach proportional verkleinert, also auch verkürzt.

Es ist jetzt nicht überraschend, dass die aktuelle Sakkomode von Models präsentiert wird, die Typ 1 entsprechen: schmal wie Heringe, lange Beine und Arme wie Ostfriesen:confused:. Da sehen die kurzen Modelle oft noch ganz gut aus, zumal das Gesäß auch bei kurzen Sakkos bedeckt bleibt.

Bei Typ 2 sieht das ganz anders aus. Das bisher normal proportionierte Sakko ist auf einmal zu kurz. Wenn man dann den Effekt von der letzten Folie noch hinzunimmt (breite Schultern), müsste ein wahrer Schrank von Sakko her, das die ganze Figur dann dominiert. Abhilfe kann hier nur ein möglichst schmaler Schnitt (der die Oberhälfte streckt) schaffen und die Länge muß eher knapp gewählt werden, sonst bleibt von den Beinen nichts mehr übrig. Im dritten Fall die normalen Proportionen zum Vergleich.

Wenn man die beiden Regeln zur Sakkolänge hernimmt (Daumengelenk und cover-your-ass), dann kommen die bei Typ 1 zu unterschiedlichen Ergebnissen. Hier wäre eher der Mittelwert angemessen, aber schmale Figuren haben einen größeren Freiraum in der Bestimmung der Länge. Für Typ 2 gibt es nur einen sehr engen Spielraum von maximal +/- 2 cm, der sich letzten Endes auch ein wenig an harmonischen Proportionen orientiert.
 
Zuletzt bearbeitet:
Sehr interessante und plausibel scheinende Überlegungen! :) Ich hoffe, dass Benutzer mit Hintergrundwissen sich einklinken; der Anfang, den du gemacht hast, ist jedenfalls sehr vielversprechend. Danke! :)
 
Taille und Schliessknopf

Neben der Sakkolänge ist ja auch immer die Schliessknopfhöhe ein Thema. Selten wird über die optische Taille gesprochen. Dazu habe ich so gut wie nichts gefunden, die Annahme ist immer, Schliessknopf, Sakkotaille und Körpertaille sollten übereinstimmen.

Wenn meine obigen Überlegungen stimmen und die Sakkolänge so ungefähr die Körpergröße (optisch) halbieren soll, dann müsste es Sakkos mit hoher Taille für Leute mit kurzem Oberkörper und langen Beinen und solche mit niedriger Taille für Leute mit langem Oberkörper und kurzen Beinen geben.

Ich bin daraufhin mein Bildmaterial (eigen und fremd) mal durchgegangen und habe festgestellt, dass die optische Taille des Sakkos sehr viel wichtiger für die gute Wirkung eines Sakkos ist als der Schliesspunkt. Bei meinen eigenen Sakkos habe ich zum Beispiel gefunden, dass einige die Taille eher etwas niedriger als den Schliesspunkt haben (zB Windsor), andere eher höher (zB Regent). Wenn der Schliesspunkt das Entscheidende wäre, müssten auch echte Dreiknopfsakkos oder Zweireiher in 6-auf-1 (auf unterste Reihe geknöpft) ganz furchtbar unproportional aussehen, was sie aber längst nicht tuen.

Ich komme daher zu der Erkenntnis, dass der Schliesspunkt eher zu den dekorativen Merkmalen wie Revers, Quartiere und Taschen gehört, das die visuelle Oberfläche des Sakkos strukturiert und insofern natürlich auch von Bedeutung ist. Für die korrekte Silhouette ist aber eher die optische Taille wichtig.

Die optische Taille muss auch nicht mit der echten Taille übereinstimmen. Es scheint so zu sein, dass wir Idealproportionen haben, wie die Taille in Relation zu Schulter und Becken positioniert sein sollte (ich kann das jetzt nicht genau als Formel angeben, sollte aber eigentlich machbar sein). Die Sakkotaille sollte genau an diesem Punkt liegen, um als wohlproportioniert wahrgenommen zu werden, unabhängig von der echten Taille, die man ja eh nicht sieht.

Weitere Unterstützung dieser Theorie liefert die Beobachtung, dass es eine Reihe von Posen gibt (Hände in den Taschen, Arme verschränkt), in denen eigentlich unvorteilhafte Sakkoproportionen nicht auffallen. Der Grund liegt darin, dass die Sakkotaille dann verdeckt bzw. eindeutig verfälscht ist, da wir aber die echte Taille auch nicht sehen, ergänzen wir im Hirn die Idealproportionen. Bei meinen eigenen zu kurzen Sakkos ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass sie gar nicht mehr so unproportioniert aussehen, wenn ich nur die Hände an den Schliessknopf lege. In der "Robopose" mit gerade herabhängenden Armen irritiert aber die falsche Taille recht stark, weil sie mit unseren Idealproportionen "offensichtlich" kollidiert.

Die Taillenposition fällt immer dann besonders auf, wenn wir die Hüfte als Referenzposition sehen können (der Hosenschlitz als Anhaltspunkt reicht schon). Ist ein Sakko lang und geschlossen und sind nur die Beine darunter zu sehen, ist die Lage der Taille relativ egal, dann spielt nur die Gesamtkörperproportion (Länge oben/unten) eine Rolle.

Ich könnte das Ganze jetzt hier mit Bildern und Zeichnungen untermauern (vielleicht mache ich das irgendwann noch), ist mir aber im Moment zu zeitaufwändig. Aber vielleicht konnte ich ja den ein oder anderen zum Nachdenken und Nachvollziehen anregen. Reale Gegenbeispiele sind natürlich auch willkommen;).
 
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